Menschenwürdiges Leben während der Corona-Pandemie

von | 8. Dez 2020 | Gesellschaft | 0 Kommentare

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Das Corona-Virus beeinflusst unseren Alltag wieder stark. Während die Infektionszahlen leicht sinken, stagnieren und steigen, diskutieren Politiker, Epidemiologen und andere Experten über mögliche Massnahmen, um auf diese Entwicklungen zu reagieren. Eine solche Diskussion kann grundsätzlich auf zwei Ebenen stattfinden:

Einerseits können konkrete Massnahmen, die die Ausbreitung des Virus aufhalten können, thematisiert und deren Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen werden. Dabei wird z. B. über die Maskenpflicht gesprochen und festgelegt, wie genau diese umgesetzt werden muss, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Auch der Lockdown im Frühjahr war eine solche Massnahme, die auch heute wieder in einigen Ländern Europas zur Bekämpfung der Corona-Pandemie eingesetzt wird.

Andererseits können wir uns als Gesellschaft mit den Leitlinien bzw. der grundlegenden Ausrichtung auseinandersetzen, die uns bei der Reaktion auf die Pandemie, Orientierung geben sollen. Bei diesem Vorgehen werden grundsätzliche Fragen zum Zielhorizont der konkreten Massnahmen gestellt, der aktuelle Umgang mit der Corona-Pandemie kritisch reflektiert und Schlüsse für den Umgang mit vergleichbaren Situationen in der Zukunft gezogen. Mir scheint, dass diese Art der Auseinandersetzung in der öffentlichen Debatte aktuell zu kurz kommt, weshalb ich im Folgenden einige Gedanken dazu ausführen und damit zum gemeinsamen Diskutieren anregen will.

Ein wenig bekanntes Virus, das eine tödliche Krankheit auslösen kann und sich unkontrolliert verbreitet, löst bei vielen Menschen verständlicherweise Unsicherheit und Angst aus. Was liegt da näher als zu überlegen, wie dieses Virus gestoppt werden kann. Wir alle wollen unser Leben behalten und sind deshalb bereit, vieles dafür zu tun. Aus diesem Grund sind wir in einer solchen Situation auch geneigt, sämtliche Anstrengungen auf die Erhaltung unseres Lebens auszurichten. Eine solche Position vernachlässigt allerdings die Frage, was für ein Leben wir erhalten wollen. Mit diesem einseitigen Fokus gefährden wir deshalb letzten Endes genau das Leben, das wir zuvor schützen wollten. Der Theologe und Philosoph Robert Spaemann plädierte deshalb dafür, Lebenserhaltung und Lebensentfaltung stets zusammen zu denken und niemals gegeneinander auszuspielen.

Wie können wir diesem Ratschlag folgend beim Umgang mit der Corona-Pandemie die Entfaltung unseres Lebens wieder stärker in den Mittelpunkt rücken?

Zunächst müssen wir wieder lernen, dass Bedürfnisse im Zusammenhang mit der Gestaltung unseres Lebens legitim sind und geäussert werden dürfen. Wir sollten gemeinsam darüber reden, was das Leben lebenswert macht. Worauf wollen wir als Einzelne und als Gesellschaft nicht verzichten, weil sonst etwas Entscheidendes fehlen würde? Ich kann diese Fragen hier nicht umfassend beantworten, möchte aber einige Vorschläge zur Debatte stellen:

Als Menschen brauchen wir ein Gegenüber und die Gemeinschaft mit anderen, um unser Leben in all seinen Facetten entfalten zu können. Als Christen sind wir davon überzeugt, dass wir für ein gelingendes Leben neben der Gemeinschaft mit anderen, die Verbindung zu Gott brauchen. Beides, die Begegnung mit Gott und Mitmenschen, sollte während der Corona-Pandemie möglich sein dürfen. Dabei sind qualitative Einschränkungen in der Begegnung, wie z. B. Masken und körperliche Distanz, hinnehmbar, da sie das Miteinander unter diesen Rahmenbedingungen erst ermöglichen. Auch eine sinnstiftende Beschäftigung gehört zu einem gelingenden menschlichen Leben, weil wir uns dabei als wirksam, kompetent und wertvoll erleben können. Wird einem Menschen sowohl die Gemeinschaft mit einem Gegenüber als auch die Ausübung einer bedeutungsvollen Tätigkeit erschwert, wie das im Lockdown zu beobachten war, leidet darunter die Entfaltung des individuellen und kollektiven Lebens mit nicht absehbaren Konsequenzen.

Aus diesen Überlegungen darf allerdings auch nicht abgeleitet werden, dass der individuellen Lebensentfaltung keine Grenzen gesetzt werden dürfen. Als Menschen können wir unsere Interessen zurückstellen und die Interessen des Gegenübers als bedeutsamer anerkennen. Weil wir aber diese Fähigkeit besitzen, dürfen wir beanspruchen, dass unsere Interessen bei der Entscheidungsfindung des Gegenübers (oder des Staates) ebenfalls Berücksichtigung finden. Dies gilt ebenfalls oder vielleicht gerade besonders bei der Ableitung von Massnahmen zur Eindämmung einer Pandemie.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich will die Gefährlichkeit des Virus oder gar seine Existenz nicht herunterspielen oder leugnen. Das Virus stellt eine Gefahr für die Gesundheit und das Leben vieler Menschen dar. Covid-19 kann aber auch zu einer Gefahr für wichtige Eckpfeiler einer menschenwürdigen Gesellschaft werden. Wir können dies verhindern, wenn wir anfangen darüber nachzudenken, was uns für unser Leben wirklich wichtig ist. Diesen Schatz können wir dann gemeinsam schützen und pflegen. Auf diese Weise kann diese Pandemie sogar zu einer Chance für uns alle werden.

 

Dietrich  Wagner

Dietrich Wagner

Gastautor

Dietrich Wagner forscht an der Uni St.Gallen zum Thema Wirtschaftsethik. Er liebt es, beim Denken nicht nur an der Oberfläche zu bleiben.

 

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